Geschrieben am 21. Juli 2021 auf
olikliniken, als solidarische (Stadtteil-) Gesundheitszentren, sind eine Antwort auf die Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitssystems. Sie sind eine konkrete Alternative zur derzeitigen ambulanten Versorgungsstruktur, in der Qualität statt Quantität gilt, Profitinteressen keinen Platz haben und Gesundheit als Allgemeingut verstanden wird.
Tina, Poliklinik Veddel und
Justus, Poliklinik Syndikat
Solidarisch, hierarchiefrei, gleichberechtigt – so stellen sich die meisten von uns einen Kollektivbetrieb vor. Ein bisschen richtiges Leben im Falschen, eine Mikro-Utopie im Kapitalismus.
Doch wer schon einmal näher mit Kollektivbetrieben zu tun hatte, weiß auch: Das stimmt so nicht ganz. Denn auch Betriebe, die Gleichheit und Transparenz zu ihren höchsten Zielen erklären, erreichen diese natürlich nicht immer.
Deshalb organisieren sich manche Kollektivbetriebe in der Basisgewerkschaft Freie ArbeiterInnen Union (FAU) und schließen sich in der Union Coop Föderation, kurz UCF, zusammen.
Aus Prinzip kollektiv
Stadtteilgesundheitszentren gehen von den Bedingungen vor Ort aus und verbinden gesundheitliche Primärversorgung mit Verhältnisprävention und partizipativer Stadtteilarbeit. Sie zeigen das Modell einer anderen
Gesundheitsversorgung auf: settingbezogen, im Stadtteil verankert, gemeinwohlorientiert, interdisziplinär.
Was nach einer Vision einer ambulanten Gesundheitsversorgung klingt, wird in einigen Städten in Deutschland bereits umgesetzt. 2017 hat das Gesundheitszentrum Poliklinik Veddel im Hamburger Stadtteil eröffnet. Mittlerweile sind 25 Personen im Stadtteilgesundheitszentrum auf der Veddel angestellt. Die Angebote reichen von der hausärztlichen, allgemeinmedizinischen Versorgung über die Hebammenarbeit bis zum Pilotprojekt »Community Health Nursing« (siehe auch Artikel auf Seite 12). Darüber hinaus kann psychologische sowie Sozial- und Gesundheitsberatung in Anspruch genommen werden, es erfolgt Stadtteilarbeit und Community Organizing. Alle Angebote verbindet, dass sie einen kollektiven Ansatz der Gesundheitsversorgung entwickeln wollen.
Die Veddel ist ein strukturell benachteiligter, postmigrantischer Stadtteil mit einem hohen Anteil an Transferbeziehenden und prekär Beschäftigten. Zwischen Hafenindustrie und Autobahn in Insellage gelegen, sind die Umweltbelastungen hoch. Die Wohnverhältnisse sind eng und die Infrastruktur begrenzt. Erst seit 1,5 Jahren gibt es wieder eine Apotheke. Für viele Erledigungen müssen die Bewohner*innen die Veddel verlassen. Für die 5.000 Bewohner*innen gab es, bevor die Poliklinik eröffnete, nur eine allgemeinärztliche Praxis. Die ärztliche Versorgung ist in Hamburg ungleich verteilt, da es für Ärzt*innen rentabler ist, sich in reicheren Stadtteilen niederzulassen. Die Poliklinik hat wegen der medizinischen Unterversorgung im Stadtteil einen Sondersitz bei der Kassenärztlichen Vereinigung beantragt und erhalten.
Gesellschaftliche Bedingungen
von Gesundheit
Gesundheit wird in den Polikliniken umfassender gedacht. Nicht nur die medizinische Versorgung und individuelle Verhaltensweisen stehen im Mittelpunkt, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit. Es ist hinlänglich bewiesen, dass soziale Faktoren einen wesentlich größeren Einfluss auf Gesundheit haben, als das
individuelle Verhalten. Viele Untersuchungen zeigen gleichzeitig, dass sozial benachteiligte Menschen häufig nicht durch die herkömmlichen gesundheitlichen und medizinischen Angebote erreicht werden. Wir wissen: Armut macht krank! Sie verursacht Stress, chronische Vorerkrankungen und verkürzt die Lebensdauer. Politische und soziale Faktoren wie Mietsteigerungen, geringes Einkommen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rassismus sowie andere Diskriminierungserfahrungen oder Altersarmut beeinflussen die Gesundheit nachweislich stärker als die Qualität
der medizinischen Versorgung alleine.
Auch die Corona-Pandemie zeigt, dass Bewohner*innen in sozio-ökonomisch benachteiligten Stadtteilen vulnerabler sind und ein größeres Risiko haben für eine Infektion oder einen schweren Verlauf. Die Pandemie verschärft die Bedingungen der gesundheitlichen Ungleichheit wie ein Brennglas. Man muss keine Revolutionär*in sein, um
zu erkennen, dass die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit der entscheidende Faktor ist, um die gesundheitliche Ungleichheit zu bekämpfen. Das Konzept Poliklinik setzt dort an. Es nimmt die krankmachenden gesellschaftlichen Verhältnisse in den Fokus und verbindet den Aufbau von Beziehungen im Stadtteil mit Verhältnisprävention. Denn letztlich sind die sozialen Determinanten genau die Faktoren, die das Verhalten der Menschen beeinflussen und die
gesellschaftlich bedingt sind. Deswegen müssen sie auch gesellschaftlich verhandelt werden. Die Verhältnisse sind veränderbar. Hier setzt auch die Perspektive einer Handlungsfähigkeit der Akteur*innen im Stadtteil an.
Handlungsfähigkeit und
Empowerment stärken
Wir begleiten Prozesse der Selbstermächtigung und des Empowerments in der Nachbarschaft und bieten Strukturen der Organisation von Interessen. Gesundheitsprävention verstehen wir als die Gestaltung von lebenswerten Bedingungen im konkreten Umfeld, den Aufbau von Beziehungen und tragfähigen Netzwerken sowie der Praxis von gelebter Solidarität. Gesundheit entsteht nach der Ottawa-Charta von 1989 dort, wo Menschen leben, lieben,
lachen, spielen, lernen und arbeiten. Nachweislich sind empowernde Stadtteile auch gesündere Stadtteile. Wir unterstützten Menschen dabei, kollektive Lösungsstrategien für gemeinsame Problemlagen zu entwickeln. Sowohl auf der Ebene der Versorgung als auch in der Entwicklung und Durchführung von Projekten möchten wir Entscheidungen teilen. Selbstorganisation bedeutet Macht abgeben und Strukturen zu schaffen, in denen Nachbar*innen und Patient*innen direkt mitgestalten können. Konkret heißt das zum Beispiel, Nachbar*innen zu vernetzen und zu organisieren, die in verschimmelten oder von Abriss bedrohten Wohnhäusern leben. Neben der Problematisierung der schlechten Wohnverhältnisse, der Herstellung von Öffentlichkeit und Aushandlung mit den Verantwortlichen führen diese Prozesse unter den Bewohner*innen zu mehr Handlungsfähigkeit und Erfahrungen praktischer Solidarität. Es heißt, ein Nachbarschaftsnetzwerk in Zeiten von Corona aufzubauen oder ein Impfzentrum mit Hilfe der Multiplikator*innen aus dem Stadtteil einzurichten und umzusetzen. Es heißt, Orte und solidarische Infrastrukturen zu schaffen, in denen Menschen direkt mitwirken und ihr Wissen und ihre Expertise teilen können. Unser Ziel ist erreicht, wenn die Nachbarschaft die Poliklinik als ihr Gesundheitszentrum versteht.
Reflexion der eigenen Rolle
Selbstorganisation bedeutet Transformation und das Auflösen von Hierarchien, sowohl im Versorgungsverständnis als auch im Umgang miteinander in einem interdisziplinären Team von Gesundheitsarbeiter*innen, welches
gesellschaftlich ebenfalls hierarchisch geprägt ist. Daher bedeutet die Arbeit im Stadtteilgesundheitszentrum zum einen die Reflexion der eigenen Rolle als behandelnde oder beratende Person, eine differenzsensible Perspektive und
Praxis sowie eine Reflexion der -ismen, die in dieser Gesellschaft verankert sind. Zum anderen benötigt es den Aufbau von internen Strukturen im Kollektiv. In diesen wird der Austausch und die Auseinandersetzung mit Konflikten und
Widersprüchen ermöglicht, Arbeitsschutz sicher gestellt und Reflexions- und Kommunikationsräume eröffnet. Wir schaffen ein Arbeitsumfeld außerhalb der gängigen Versorgungsmodelle, arbeiten basisdemokratisch als Kollektiv. Gleichfalls bewegen wir uns weiterhin in einem ökonomisierten Bereich, welcher auch Auswirkungen auf die Versorgung und den Arbeitsalltag hat. Nach wie vor können die Kolleg*innen aus der medizinischen Versorgung nur nach Fallpauschale abrechnen. Dies bedeutet, dass alle Arbeitsschritte, die für die umfassende Versorgung zusätzlich anfallen, wie die interprofessionellen Teamsitzungen, längere Behandlungszeiten sowie interne Arbeitstreffen nicht abrechenbar sind. Nicht zuletzt deswegen ist die Poliklinik Veddel auch im Poliklinik Syndikat organisiert (siehe Kasten). Die einzelnen Gesundheitszentren bilden die Basis, indem sie im jeweiligen Kiez mit den Menschen vor Ort eine konkrete Praxis entwickeln. Die dafür nötigen Rahmenbedingungen können jedoch nicht vollumfänglich auf lokaler Ebene geschaffen werden. Es benötigt eine bedarfsgerechte und sozialraumbezogene Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung, die nach dem Kostendeckungsprinzip funktioniert und nicht an Fallpauschalen gebunden ist. Hier sehen wir unter anderem auch die Verbindung zu den Forderungen und Auseinandersetzungen aus der Gesundheits- und Krankenhausbewegung. Diese Forderung in die Gesellschaft und (Bundes-) Politik zu tragen, ist Aufgabe des Poliklinik Syndikats.
In anderen Ländern wie Kanada sind Gesundheitszentren seit Jahrzehnten ein Teil der ambulanten Struktur, die besonders die Versorgung von marginalisierten Gruppen sicherstellt. Die kanadischen Community Health Center sind als Teil migrantischer Selbstorganisation entstanden und haben bereits damals klargemacht, dass die Ursache von Krankheit häufig auch in der sozialen Ungleichheit zu suchen ist. Die Therapie dagegen muss Solidarität und egalitäre Gesellschaftsformen heißen. Gesundheitliche Chancenungleichheit muss ab- und solidarische Infrastrukturen müssen aufgebaut werden.
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