Gespräch mit einem russischen Anarchosyndikalisten
Interview: Silke
in Krieg, der in Russland nicht so heißen darf; Propagandageheul auf allen Seiten; Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit außer Kraft – die Lage seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist denkbar unübersichtlich. Unser Gesprächspartner, ein russischer Anarchosyndikalist, bewahrt dennoch klaren Kopf. Sein ausgeprägtes Geschichts- und Klassenbewusstsein und die nach wie vor bestehenden Kontakte zu seinen Genoss*innen in beiden Krieg führenden Ländern helfen ihm, die Geschehnisse zu analysieren und nicht in die Falle des Nationalismus und der Kriegsbegeisterung zu tappen. Seinen Namen möchte er aus Gründen des Selbstschutzes lieber nicht in der Zeitung sehen.
GWR: Die Ereignisse haben sich im Februar überschlagen. Kam der Angriff der russischen Armee in der Nacht zum 24. Februar für dich überraschend?
Ja und nein. Es ist ähnlich wie zu Beginn des Ersten Weltkrieges: Einerseits war die Eskalation unübersehbar, und eine offene militärische Konfrontation war eine vollkommen reale Gefahr. Alle Seiten – die NATO-Staaten, der Kreml und Kiew – drängten geradezu darauf, wenngleich in verschiedener Weise. Die ökonomischen, politischen und geostrategischen Widersprüche spitzten sich sowohl im Inneren der Staaten als auch in Form imperialistischer Rivalitäten immer mehr zu.
Inzwischen wissen wir, dass der Kreml eindeutig gelogen hat, als er erklärte, es gäbe keine Kriegsvorbereitungen. Solche Angriffe werden gewöhnlich lange im Voraus geplant. Wir hofften aber, dass die Politiker*innen doch genug Vernunft haben würden, einander nicht bis zum letzten Schritt zu provozieren. Oder zumindest, dass sie diesen letzten Schritt nicht riskieren würden. Unsere Hoffnungen wurden leider enttäuscht.
Wie hatte die anarchistische Bewegung in Russland in den Wochen zuvor die Lage eingeschätzt? Und gab es Proteste gegen die Kriegsvorbereitungen?
Es gab eben diese Mischung aus Furcht und Hoffnung. Einige sagten schon damals: Man muss auf das Schlimmste gefasst sein. Die anderen glaubten, der Kreml habe in der Ukraine eigentlich schon bekommen, was er wollte, und habe deshalb kein Interesse, einen neuen, wirklich groß angelegten Krieg zu riskieren: Schließlich waren die Chancen der Ukraine, in absehbarer Zeit Mitglied der NATO zu werden, recht gering. Wieder andere sagten, …