Bild oben: gefunden bei Ceasefire Magazine – Anarchist without Adjectives: Why Rudolf Rocker still matters | Gemalt von Fermin Rocker, englischer Maler und ein Sohn von Rudolf Rocker; farbliche Bearbeitung von reso.media.
1). ZUR IDEOLOGIE DES ANARCHISMUS
er Anarchismus ist eine bestimmte intellektuelle Strömung, deren Anhänger die Abschaffung der wirtschaftlichen Monopole und aller politischen und sozialen Zwangsinstitutionen innerhalb der Gesellschaft anstreben. An die Stelle der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wollen die Anarchisten eine freie Vereinigung aller Produktivkräfte stellen, die auf kooperativer Arbeit beruht, und die als alleinigen Zweck die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse jedes Mitglieds der Gesellschaft haben würde. Anstatt der gegenwärtigen Nationalstaaten mit ihrer leblosen Maschinerie politischer und bürokratischer Institutionen fordern Anarchisten eine Föderation freier Kommunen, die untereinander durch ihre alltäglichen Interessen verbunden sind, und ihre Angelegenheiten durch gegenseitige und freie Verträge regeln.
Jeder, der die ökonomische und politische Entwicklung des gegenwärtigen Systems genauer untersucht, wird erkennen, daß diese Ziele nicht den utopischen Ideen einiger Phantasten entspringen. Sie sind vielmehr das logische Ergebnis einer gründlichen Überprüfung der heutigen miserablen sozialen Verhältnisse, die sich in jeder Phase der gegenwärtigen sozialen Bedingungen immer deutlicher und schädlicher offenbaren. Der moderne Monopolkapitalismus und die totalitären Staaten sind nichts anderes als die letzten Stufen einer Entwicklung, die nirgendwo anders enden konnte.
Die unheilvolle Entwicklung unseres gegenwärtigen wirtschaftlichen Systems, die zu einer enormen Anhäufung sozialen Reichtums in den Händen privilegierter Minderheiten und zu einer andauernden Unterdrückung der großen Masse des Volkes führte, ebnete den Weg für die heutige politische und soziale Reaktion. Sie erwies sich ihr in jeder Weise als dienlich. Sie opferte die allgemeinen Interessen der Gesellschaft den Privatinteressen einzelner und unterminierte so systematisch echte Beziehungen zwischen den Menschen. Die Menschen vergaßen, daß der Fleiß nicht Selbstzweck ist, sondern lediglich dem Menschen zur Sicherung seines materiellen Unterhalts dient und ihm die Errungenschaften einer höherstehenden Kultur zugänglich machen soll. Wo Fleiß alles ist, Arbeit ihren ethischen Einfluß verliert und der Mensch nichts ist, beginnt der brutale wirtschaftliche Despotismus. Dessen Auswirkungen sind nicht weniger unheilvoll als die irgendeines politischen Despotismus.
Unser modernes soziales System hat im Innern den sozialen Organismus jedes Landes in zwei feindliche Klassen gespalten. Nach außen hat es den gemeinsamen kulturellen Kreis der verfeindeten Nationen zerbrochen; beide, Klassen und Nationen, stehen sich in offener Feindschaft gegenüber. Bedingt durch ihren unaufhörflichen Kampf unterliegt das soziale Leben fortwährenden Störungen. Zwei Weltkriege innerhalb eines halben Jahrhunderts mit ihren schrecklichen Nachwirkungen, und die latente Gefahr neuer Kriege, die zur Zeit alle Völker beherrscht, sind nur die logischen Konsequenzen dieser unerträglichen Bedingungen, die nur in weitere weltweite Katastrophen führen können. Die bloße Tatsache, daß die meisten Staaten heute verpflichtet sind, einen erheblichen Teil ihres Bruttosozialprodukts für die sog. nationale Verteidigung und für die Liquidation alter Kriegsschulden auszugeben, ist der Beweis für die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustands. Es sollte jedem klar sein, daß der vorgebliche Schutz, den der Staat dem Einzelnen gewährt, zu teuer erkauft wird.
Die ständig wachsende Macht einer seelenlosen politischen Bürokratie, die das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre überwacht und „schützt“, wird für die Zusammenarbeit der Menschen zu einem immer größeren Hindernis. Ein System, das mit jeder Handlung das Wohlergehen großer Teile der Menschen, sogar ganzer Nationen, der egoistischen Sucht nach Macht und den ökonomischen Interessen von Minoritäten opfert, muß notwendigerweise die sozialen Bindungen auflösen und zu einem fortwährenden Kampf jeder gegen jeden führen. Dieses System ist lediglich Schrittmacher für die große geistige und soziale Reaktion geworden. Diese findet heute ihren Ausdruck im Faschismus und in der Idee des totalitären Staates, die die Machtbesessenheit der absoluten Monarchie der vergangenen Jahrhunderte weit übertreffen und versuchen, jeden Bereich der menschlichen Aktivität unter die Kontrolle des Staates zu bringen. „Alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat!“ (Mussolini) wurde das Leitmotiv einer neuen politischen Theologie. Heißt es in den alten Kirchensystemen „Gott ist alles und der Mensch ist nichts“, so ist das moderne Glaubensbekenntnis „Der Staat ist alles und der Bürger nichts“. Und so wie das Wort „Der Wille Gottes“ benutzt wurde, um den Willen der herrschenden Klassen zu rechtfertigen, so verstecken sich heute hinter dem „Willen der Staaten“ nur die egoistischen Interessen derer, die sich berufen fühlen, diesen Willen in ihrem Sinne zu interpretieren und den Menschen aufzuzwingen.
Im modernen Anarchismus treffen zwei große Strömungen zusammen, die vor und nach der französischen Revolution einen sehr großen Ausdruck im geistigen Leben Europas gefunden haben: Sozialismus und Liberalismus. Der moderne Sozialismus …